Freitag, 23. Juli 2010

Eine Spur in die «gute alte Zeit»

Lisa Tetzner und Kurt Held: Sie schrieben gemeinsam den populären Jugendroman «Die Schwarzen Brüder».

Das Buch und seine Autoren sind halb vergessen, aber «Die Schwarzen Brüder» leben dank des Musicals in Walenstadt fort. Die Geschichte einer Dichterehe.

Gestern Abend feierte das Musical «Die Schwarzen Brüder» in Walenstadt Premiere (Kritik folgt im Samstagsblatt). Der Tessiner Verdingbub Giorgio wird von jetzt an von Geigen unterlegt durch die verrussten Kamine Mailands kraxeln. Durch den Schweizer Jugendbuchbestseller von Lisa Tetzner wurde ihr kommunistischer Ehemann Kurt zu jenem Kurt Held, dem wir auch «Die rote Zora» danken.

Den «Schwarzen Brüdern» verdanke ich manch freundliches Wort. Nannte ich in der Zeit von Schwarzenbachs «Überfremdungsinitiativen» meinen Vornamen, kam ich – der «Tschingg» –, in den Genuss der freundlichen Anteilnahme, die der Held des helvetischen Jugendbuchbestsellers bei seinen Leserinnen und Lesern gewonnen hatte.

Giorgio wird zusammen mit anderen halbwüchsigen Tessiner Buben im finsteren 19. Jahrhundert aus den armen und übervölkerten Tessinertälern nach Mailand als Schornsteinfegergehilfe verdingt. Dort erleben sie die Wohltaten eines gutherzigen Arztes. Aber auch die geballte Härte des norditalienischen Stadtbürgertums, in deren verrussten Kaminen die Kinder in der Blüte des Kapitalismus ihr Leben aufs Spiel setzen müssen.

Wende. Das Buch markiert auch einen Wendepunkt in der Ehe Lisa Tetzner/Kurt Kläber (aka Held). Bis anhin war Frau Tetzner für die Kinderherzen zuständig, während Kurt Kläber als kommunistischer Literat das Weltanschauliche für Erwachsene beackerte. 1933 wurde er nach dem von den Nazis inszenierten «Reichstagsbrand» verhaftet. Seine Bücher wurden verbrannt.

Lisa Tetzner, die unbedenkliche Bürgerstochter und Radiomärchentante, durfte noch bis 1937 in Deutschland publizieren. Aber sie musste um die Freilassung ihres Mannes kämpfen und folgte ihm ins Schweizer Exil nach Carona. Hier erwartete Kläber ein Schreibverbot und die übliche fremdenpolizeiliche Praxis.

Lisa Tetzner nahm einen Lehrauftrag in Basel an, Kurt Kläber versuchte sich in kleinbäuerlicher Selbstversorgung. Im Jahr des Zusammenbruchs Frankreichs, als General Henri Guisan den Rütli-Rapport abhielt und der Schriftsteller Walter Benjamin in Port Bou Selbstmord machte, erschien das Buch unter dem Namen Lisa Tetzner. Es scheint aber wesentlich das Werk Kurt Kläbers gewesen zu sein, der schon im Jahr darauf unter dem Pseudonym Kurt Held den viel gelesenen Klassiker «Die rote Zora» vorlegte.

Jugend. Das Ehepaar trotzte der Zeit. Um das geistige Fundament dieser Dichterehe zu begreifen, sei die erste Begegnung der beiden, wie sie Lisa Tetzner später schilderte, zitiert: «Es war im Jahr 1919. Ich wanderte Märchen erzählend durch den Thüringer Wald. In einer kleinen Stadt, Lauscha, dem Mittelpunkt der Glasbläser, traf ich eine laute Kirchweih (...) Besonders eine Bude fesselte sofort meinen erstaunten Blick. Davor stand ein junger Bursche mit dichtem, braunem, ziemlich struppigem – oder sagen wir offen – liederlichem Haar. Es fiel ihm bei jeder Bewegung über Augen und Nase und wurde dann mit kühner Kopfbewegung nach rückwärts geworfen. Er trug nach damaliger Wandervogelart einen rostbraunen Leinenkittel mit dem freideutschen Jugendabzeichen, kniefreie schwarze Manchesterhosen, nackte Beine und Sandalen, so genannte Jesuslatschen.» 1924 wurde geheiratet.

Gastarbeiter. Kläber hoffte lange auf den Kommunismus. In seinem 1927 erschienenen ersten Roman «Passagiere der III. Klasse», in dem er Gespräche von Atlantikreisenden montiert, lässt er einen russischen Bauern auftreten, der, obwohl es ihm in den USA nicht schlecht ging, nach Hause will, weil ihm sein Vater geschrieben hat: «Wir haben ein neues Väterchen in Moskau: Wladimir Iljitsch (Lenin) ... Er hat allen die Freiheit geschenkt und uns Feld gegeben. Es ist Feld auch für dich da.»

Feld und Freiheit fand Kurt Kläber im Tessin bei Mutter Helvetia und in Lisa Tetzners Liebe. Hier wurde er Held und 1948 – nach «Der Trommler von Faido» – Schweizer Bürger. Lisa Tetzner überlebte ihn um vier Jahre und setzte diesem Tessiner «geistigen Gastarbeiter» in «Das war Kurt Held» 1961 ein literarisches Denkmal.

> «Die Schwarzen Brüder» werden in Walenstadt noch bis zum 21. August gespielt. www.dieschwarzenbrueder.ch

Dieser Artikel erschien am 23. Juli 2010 auf der 2. Seite der "Basler Zeitung".
Wollen Sie solche Schreibe im Briefkasten? Abonnieren Sie: hier.
kopf des tages
Lisa Tetzner/Kurt Held


Samstag, 10. Juli 2010

Schweiz II (aus Com&Com-Lexikon)


Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell in lieblicher Landschaft im Herzen Europas. Entwickelte am Schnittpunkt von römischer Rechtskultur und germanischem Gemeinschaftssinn schon im Hochmittelalter jenen rational-schonenden Umgang mit kargen Natur-Ressourcen und gemeinsamen Waschküchen (Nachhaltigkeit), den Prof. Dr. Ostrom zum Muster erhob (Nobelpreis 2009). Friedrich Dürrenmat, der die Schweiz vor seinem Tod als selbstverwaltetes Gefängnis beschrieb, was überzeugt: „Die Welt wird untergehen oder verschweizern, gemütlich wird es auf alle Fälle nicht.“

Geschichte: Ausgehend von der Nidwaldner „Uerte“ als korporativer Nutzgenossenschaft (Kolchose) von Wald und Weide (Allmende) und der Korporationen Uri, Urseren und Schwyz, entwickelte sich der Bund (CONFOEDERATIO HELVETICA): „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Politische Entscheidungen wurden seit jeher in Mordnächten hinterrügsli“ gesucht („Die Nacht der langen Messer“). 1499 wurden die juristischen und fiskalischen Steinbrücken über den Rhein abgebrochen (Schwaben- oder Schweizerkrieg), weil Maximilian I. die Reichskasse füllen und seinen kühnen Schwiegervater Karl rächen wollte. Nach dem Sieg wollten alle ‚Schweizer werden’. Basel und Schaffhausen durften 1501 beitreten und 1513 auch die Appenzeller (die „wilde 13“ was komplett): Konstanz, Strassburg, Mühlhausen und Vorarlberg schafften es nicht.
In Genf schrieb der Jurist Johannes Calvin die Lehre der „Uerte“ auf Lateinisch und lieferte die Theologie zum Tyrannenmord Tells. Das Spiel dazu schuf 1804 der „RäuberFritz Schiller, nachdem der Professor Friedrich Schiller, geschockt vom Justizmord am wehrlosen „allerchristlichsten König“ 1793 der Menschheit eine „ästhetische Erziehung“ verpassen wollte. Das Fussvolk des konfessionellen Dschihads Zwinglis schöpfte aus der „Kappeler Milchsuppe“ 1529 das helvetische Toleranzmodell. Auch Napoleon begriff nach stürmischen Jahren 1803, dass Eidgenossen keine Freunde des Zentralismus sind und nach Waterloo wurde in Wien die Eidgenosschenschaft der 22 Konatone zur „immerwährenden, bewaffneten Neutralität“ verpflichtet.
1847 fiel im Hochland der erste Schuss für die moderne liberale Demokratie, die 1848 „im Namen des Allmächtigen“ sich nach amerikanischem Vorbild verfasste und Dank dem Franken, auf dem sich die 1850 sitzende Helvetia, 1856 Preussen mit Waffen drohte, 1874 zur stehenden erhob und den obligatorischen Übungen mit der persönnlichen Ordonnanzwaffe ab 1874 setzten sich in dern 1860ern direkte Demokratie, Judenemanzipation, das „Rote Kreuz“ und Bekenntnisfreiheit der Reformierten durch. 1891 feierte der Bund sein 600jähriges Bestehen durch die Aufnahme der Katholiken in die Konkordanz des Bundesrates. Im Ersten Weltkrieg blieb die Schweiz, wie im Zweiten auf einem humanitären aber wirtschaftlich dank der Kundendiskretion („Bankgeheimnis“) nicht unvorteilhaften Beobachtungsposten, der sich im ‚Schweizerspiegel’ Meinrad Inglins spiegelte. Dem Bolschewismus zeigte die Armee 1918 im Generalstreik die blanken Säbel, um 1959 auch die patriotische Sozialdemokratie mit der ‚Zauberformel’ in die Konkordanzregierung einzubinden. Dazwischen lag der ‚Aktivdienst’ im Geist der ‚Landi 1939’. Aus dieser Schicksalsstunde der Willensnation wurde der Kern des Sozialstaates geschmiedet: die 1948 eingeführte AHV.
Kunst Dann kam das ominöse 1968. Die „drei Tellen“ der Kunst, Harald Szeemann (1933 – 2005), der ‚geistige Gastarbeiter’ („when attitudes become form“ Bern, 1969), Dieter Meier (*1945), der urbane Kunstgeck („this man will not shoot“, Matthiasabend 1971 in New York) und H.R. Giger (*1940) der apokalyptische Erotiker („Alien“, Hollywood, 1979) beschworen neu den Kunst-Bund. 1971 wurde in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt. Im gleichen Jahr erblickte Johannes M. Hedinger in St.Gallen das Licht der Welt, das Marcus Gossolt schon zwei Jahre genoss. 1979/1980 setzte Bettina Eichin (*1942) die Helvetia müde und entwaffnet ans Rheinufer in Basel, es kam die Epoche der ‚zynischen Vernunft’ (Sloterdijk, 1983). Und Johannes und Marcus warden Kunst-Zyniker, denn das „Fräulein“ war tot, aber das versicherte Leben mit AHV im Atombunker eidgenössisch garantiert, die Welt nur durch Kunst zu retten. 1989 fiel die Mauer des Bolschewismus, das Schweizervolk wollte direktdemokratisch Armee bleiben, kam aber in den Staatsschutzakten zum Bewusstsein seines Seins: das selbstverwaltete Gefängnis. 1991 beim 700-jährigen Jubeljahr meinten Max Frisch & Konsorten: „Siebenhundert Jahre sind genug“, aber der Niklaus Meienberg rplizierte in heiligem Zorn: „sauvez la suisse, coute que coute!“. 1997 entstand Com&Com, eine Doppel-Ich AG von Johannes zur künstlerisch-medialen Selbstrettung und dem Verkauf von künstlerischen Schrottpapieren (Ospels der Kunstwelt). Im annus horribilis 2001, als die Twin Towers in New York als tönerne Kolosse dich erwiesen, der Gotthard-Tunnel brannte, die Swissair groundete und Friedrich Leibacher im Rathaus des Zuger Steuerparadieses ein Blutbad (‚Zuger Ratsherrenschiessen’) anrichtete, war das Menetekel der apokalyptischen Zeitenwende, trotzdem wurde die Expo.02 zu einem letzten Fest postmoderner Selbstironie. Wie non 2008 die Finanzkrise kam. Steht sie immer noch: die Schweiz.

Aus: „la réalité dépasse la fiction: Lexikon zur zeitgenössischen Kunst von Com&Com“ Johannes M. Hedinger, Marcus Gossolt, Centre PasquArt Biel/Bienne (Hrsg.) Niggli Verlag 2010. S. 150f.
Weitere Lemmata, die online sind:
Tradition (Pius Knüsel)