Samstag, 10. Juli 2010

Schweiz II (aus Com&Com-Lexikon)


Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell in lieblicher Landschaft im Herzen Europas. Entwickelte am Schnittpunkt von römischer Rechtskultur und germanischem Gemeinschaftssinn schon im Hochmittelalter jenen rational-schonenden Umgang mit kargen Natur-Ressourcen und gemeinsamen Waschküchen (Nachhaltigkeit), den Prof. Dr. Ostrom zum Muster erhob (Nobelpreis 2009). Friedrich Dürrenmat, der die Schweiz vor seinem Tod als selbstverwaltetes Gefängnis beschrieb, was überzeugt: „Die Welt wird untergehen oder verschweizern, gemütlich wird es auf alle Fälle nicht.“

Geschichte: Ausgehend von der Nidwaldner „Uerte“ als korporativer Nutzgenossenschaft (Kolchose) von Wald und Weide (Allmende) und der Korporationen Uri, Urseren und Schwyz, entwickelte sich der Bund (CONFOEDERATIO HELVETICA): „Im Namen Gottes des Allmächtigen“. Politische Entscheidungen wurden seit jeher in Mordnächten hinterrügsli“ gesucht („Die Nacht der langen Messer“). 1499 wurden die juristischen und fiskalischen Steinbrücken über den Rhein abgebrochen (Schwaben- oder Schweizerkrieg), weil Maximilian I. die Reichskasse füllen und seinen kühnen Schwiegervater Karl rächen wollte. Nach dem Sieg wollten alle ‚Schweizer werden’. Basel und Schaffhausen durften 1501 beitreten und 1513 auch die Appenzeller (die „wilde 13“ was komplett): Konstanz, Strassburg, Mühlhausen und Vorarlberg schafften es nicht.
In Genf schrieb der Jurist Johannes Calvin die Lehre der „Uerte“ auf Lateinisch und lieferte die Theologie zum Tyrannenmord Tells. Das Spiel dazu schuf 1804 der „RäuberFritz Schiller, nachdem der Professor Friedrich Schiller, geschockt vom Justizmord am wehrlosen „allerchristlichsten König“ 1793 der Menschheit eine „ästhetische Erziehung“ verpassen wollte. Das Fussvolk des konfessionellen Dschihads Zwinglis schöpfte aus der „Kappeler Milchsuppe“ 1529 das helvetische Toleranzmodell. Auch Napoleon begriff nach stürmischen Jahren 1803, dass Eidgenossen keine Freunde des Zentralismus sind und nach Waterloo wurde in Wien die Eidgenosschenschaft der 22 Konatone zur „immerwährenden, bewaffneten Neutralität“ verpflichtet.
1847 fiel im Hochland der erste Schuss für die moderne liberale Demokratie, die 1848 „im Namen des Allmächtigen“ sich nach amerikanischem Vorbild verfasste und Dank dem Franken, auf dem sich die 1850 sitzende Helvetia, 1856 Preussen mit Waffen drohte, 1874 zur stehenden erhob und den obligatorischen Übungen mit der persönnlichen Ordonnanzwaffe ab 1874 setzten sich in dern 1860ern direkte Demokratie, Judenemanzipation, das „Rote Kreuz“ und Bekenntnisfreiheit der Reformierten durch. 1891 feierte der Bund sein 600jähriges Bestehen durch die Aufnahme der Katholiken in die Konkordanz des Bundesrates. Im Ersten Weltkrieg blieb die Schweiz, wie im Zweiten auf einem humanitären aber wirtschaftlich dank der Kundendiskretion („Bankgeheimnis“) nicht unvorteilhaften Beobachtungsposten, der sich im ‚Schweizerspiegel’ Meinrad Inglins spiegelte. Dem Bolschewismus zeigte die Armee 1918 im Generalstreik die blanken Säbel, um 1959 auch die patriotische Sozialdemokratie mit der ‚Zauberformel’ in die Konkordanzregierung einzubinden. Dazwischen lag der ‚Aktivdienst’ im Geist der ‚Landi 1939’. Aus dieser Schicksalsstunde der Willensnation wurde der Kern des Sozialstaates geschmiedet: die 1948 eingeführte AHV.
Kunst Dann kam das ominöse 1968. Die „drei Tellen“ der Kunst, Harald Szeemann (1933 – 2005), der ‚geistige Gastarbeiter’ („when attitudes become form“ Bern, 1969), Dieter Meier (*1945), der urbane Kunstgeck („this man will not shoot“, Matthiasabend 1971 in New York) und H.R. Giger (*1940) der apokalyptische Erotiker („Alien“, Hollywood, 1979) beschworen neu den Kunst-Bund. 1971 wurde in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt. Im gleichen Jahr erblickte Johannes M. Hedinger in St.Gallen das Licht der Welt, das Marcus Gossolt schon zwei Jahre genoss. 1979/1980 setzte Bettina Eichin (*1942) die Helvetia müde und entwaffnet ans Rheinufer in Basel, es kam die Epoche der ‚zynischen Vernunft’ (Sloterdijk, 1983). Und Johannes und Marcus warden Kunst-Zyniker, denn das „Fräulein“ war tot, aber das versicherte Leben mit AHV im Atombunker eidgenössisch garantiert, die Welt nur durch Kunst zu retten. 1989 fiel die Mauer des Bolschewismus, das Schweizervolk wollte direktdemokratisch Armee bleiben, kam aber in den Staatsschutzakten zum Bewusstsein seines Seins: das selbstverwaltete Gefängnis. 1991 beim 700-jährigen Jubeljahr meinten Max Frisch & Konsorten: „Siebenhundert Jahre sind genug“, aber der Niklaus Meienberg rplizierte in heiligem Zorn: „sauvez la suisse, coute que coute!“. 1997 entstand Com&Com, eine Doppel-Ich AG von Johannes zur künstlerisch-medialen Selbstrettung und dem Verkauf von künstlerischen Schrottpapieren (Ospels der Kunstwelt). Im annus horribilis 2001, als die Twin Towers in New York als tönerne Kolosse dich erwiesen, der Gotthard-Tunnel brannte, die Swissair groundete und Friedrich Leibacher im Rathaus des Zuger Steuerparadieses ein Blutbad (‚Zuger Ratsherrenschiessen’) anrichtete, war das Menetekel der apokalyptischen Zeitenwende, trotzdem wurde die Expo.02 zu einem letzten Fest postmoderner Selbstironie. Wie non 2008 die Finanzkrise kam. Steht sie immer noch: die Schweiz.

Aus: „la réalité dépasse la fiction: Lexikon zur zeitgenössischen Kunst von Com&Com“ Johannes M. Hedinger, Marcus Gossolt, Centre PasquArt Biel/Bienne (Hrsg.) Niggli Verlag 2010. S. 150f.
Weitere Lemmata, die online sind:
Tradition (Pius Knüsel)

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